"Man wird so vergesslich, wenn man alt wird (...) Denn in Wahrheit, man weiß nicht einmal mehr so richtig, wer noch lebt und wer schon tot ist, man weiß es sogar von sich selber nicht mehr genau. Die Leute, natürlich, sagen es einem ja auch so ungern." Mit diesem Ausspruch des ungarischen Gutsbesitzers Szent-Kiraly, einem etwas verschusselt, aber großbürgerlich auftretenden Herrn, sollten wir wissen, woran wir sind in Lernet-Holenias Novelle. Der zitierte Ausspruch fällt etwa in der Mitte. Aber im Grunde wissen wir es schon ab Seite 6.
Der Baron Bagge, ein unscheinbarer und zurückhaltender Mensch - immerhin hat er mindestens zwei Frauen das Herz gebrochen! - berichtet ein Kriegserlebnis aus dem Jahr 1915. Er befindet sich auf einem Aufklärungsfeldzug in Ungarn unter einem jüngeren, recht aufbrausenden Befehlshaber, der die ganze Schwadron in eine höchst gefährliche Lage hineinkommandiert. Wie durch ein Wunder gibt es kaum Verluste. Trotzdem wird es in den Tagen darauf immer merkwürdiger mit diesem Befehlshaber und eigentlich der ganzen Heerabteilung. Man reitet in ein ungarisches Städtchen am Rande der Karpaten hinein, in dem - nach Auskunft der Stadtbewohner - sich seit Ewigkeiten kein Russe hat blicken lassen. Der Feind ist wie vom Erdboden verschwunden, obwohl der Kommandant in allen Richtungen geradezu verzweifelt nach ihm suchen lässt. Es gibt nichts zu tun, der Krieg ist ausgesetzt, man feiert, Baron Bagge lernt die Frau seines Lebens kennen (die Tochter des oben zitierten Gutsbesitzers). Aber all das kann doch irgendwie nicht stimmen ...
Ich habe schon einiges gelesen von Lernet-Holenia und wusste daher schon recht früh, was hinter alledem steckt - es ist ein Lieblingsthema des Autors. Das Buch ist kurz, man kann an zwei Abenden damit fertig werden. Die ganze Erzählung ist diesem Baron Bagge in den Mund gelegt, und das bestimmt den Stil: So gern Bagge sich mitteilen möchte, so sehr schreckt er auch davor zurück, zum Punkt zu kommen. Die Ausdrucksweise ist manchmal recht gewunden, der Erzähler beschreibt die Einrichtung beim Gutsbesitzer und das Auftreten seiner Geliebten, weil er - so mein Eindruck - für das Eigentliche, was zu erzählen wäre, die Worte nicht finden will.
Mit großem Detailreichtum werden die Einzelheiten des Feldzugs berichtet, die Landschaft, Wetter- und Lichtphänomene. Ein Beispiel, es geht um einen "mit fliegendem Sand untermischten Schneesturm": Als die Schwadron sich sammelte, waren die Pferde und Reiter auf einer Seite sofort ganz verschneit. Das Tageslicht, weißlichblau und als käme es von überall und nirgends zugleich, ergoss sich über uns wie eine milchige Masse." Besondere Aufmerksamkeit widmet Lernet-Holenia, insoweit ganz Einwohner der k.u.k.-Monarchie, übrigens den Armeepferden - "zottige Pferde im spannenlangen Winterhaar", "die Pferde schnauften leise durch die Nasen und bekamen auf einmal so hohe Gänge, als fürchteten sie sich (...) auf etwas zu treten, das aufspringen und uns anfallen könnte (...)".
Solche anschaulichen Beschreibungen (die immer in Handlung eingebunden und nie langweilig sind) kommen immer wieder und schaffen eine eigentümliche, diesige Stimmung. Obwohl ich als alte Gruselgeschichtensammlerin allerhand gewohnt bin, wirkte die Geschichte auf mich wie ein verwirrender Alptraum. Es gibt keine Schockmomente, bis auf eine Nebensächlichkeit ganz am Anfang, aber wenn man sich auf die Geschichte einlässt, ist sie unglaublich gruselig. Das gilt auch, wenn man schon frühzeitig ahnt oder weiß, was da eigentlich passiert mit dem Baron Bagge.
In meiner Ausgabe (Ebook vom S. Fischer Verlag aus 1978) ist ein Nachwort von Hilde Spiel beigefügt, die diese Novelle als reifstes Buch Lernet-Holenias betrachtet, und auch Michael Maar rühmt sie in "Die Schlange im Wolfspelz - Das Geheimnis großer Literatur" als Meisterwerk. Von mir eine Leseempfehlung - mit der Einschränkung natürlich, dass man gegen das Setting, ein Kavalleriefeldzug im WK 1, keinen Widerwillen haben darf, wenn das Lesen Freude machen soll. Lernet-Holenia war in gewisser Weise spezialisiert auf solche Themen; ich habe irgendwo gelesen, dass Joseph Roth die militärischen Details in "Radetzkymarsch" von ihm abnicken ließ. Aber keine Angst, heldenhaftes Soldatentum gibt's hier nicht. Eher beinahe das Gegenteil.
Beschreibung eines Feldzugs
"Man wird so vergesslich, wenn man alt wird (...) Denn in Wahrheit, man weiß nicht einmal mehr so richtig, wer noch lebt und wer schon tot ist, man weiß es sogar von sich selber nicht mehr genau. Die Leute, natürlich, sagen es einem ja auch so ungern." Mit diesem Ausspruch des ungarischen Gutsbesitzers Szent-Kiraly, einem etwas verschusselt, aber großbürgerlich auftretenden Herrn, sollten wir wissen, woran wir sind in Lernet-Holenias Novelle. Der zitierte Ausspruch fällt etwa in der Mitte. Aber im Grunde wissen wir es schon ab Seite 6.
Der Baron Bagge, ein unscheinbarer und zurückhaltender Mensch - immerhin hat er mindestens zwei Frauen das Herz gebrochen! - berichtet ein Kriegserlebnis aus dem Jahr 1915. Er befindet sich auf einem Aufklärungsfeldzug in Ungarn unter einem jüngeren, recht aufbrausenden Befehlshaber, der die ganze Schwadron in eine höchst gefährliche Lage hineinkommandiert. Wie durch ein Wunder gibt es kaum Verluste. Trotzdem wird es in den Tagen darauf immer merkwürdiger mit diesem Befehlshaber und eigentlich der ganzen Heerabteilung. Man reitet in ein ungarisches Städtchen am Rande der Karpaten hinein, in dem - nach Auskunft der Stadtbewohner - sich seit Ewigkeiten kein Russe hat blicken lassen. Der Feind ist wie vom Erdboden verschwunden, obwohl der Kommandant in allen Richtungen geradezu verzweifelt nach ihm suchen lässt. Es gibt nichts zu tun, der Krieg ist ausgesetzt, man feiert, Baron Bagge lernt die Frau seines Lebens kennen (die Tochter des oben zitierten Gutsbesitzers). Aber all das kann doch irgendwie nicht stimmen ...
Ich habe schon einiges gelesen von Lernet-Holenia und wusste daher schon recht früh, was hinter alledem steckt - es ist ein Lieblingsthema des Autors. Das Buch ist kurz, man kann an zwei Abenden damit fertig werden. Die ganze Erzählung ist diesem Baron Bagge in den Mund gelegt, und das bestimmt den Stil: So gern Bagge sich mitteilen möchte, so sehr schreckt er auch davor zurück, zum Punkt zu kommen. Die Ausdrucksweise ist manchmal recht gewunden, der Erzähler beschreibt die Einrichtung beim Gutsbesitzer und das Auftreten seiner Geliebten, weil er - so mein Eindruck - für das Eigentliche, was zu erzählen wäre, die Worte nicht finden will.
Mit großem Detailreichtum werden die Einzelheiten des Feldzugs berichtet, die Landschaft, Wetter- und Lichtphänomene. Ein Beispiel, es geht um einen "mit fliegendem Sand untermischten Schneesturm": Als die Schwadron sich sammelte, waren die Pferde und Reiter auf einer Seite sofort ganz verschneit. Das Tageslicht, weißlichblau und als käme es von überall und nirgends zugleich, ergoss sich über uns wie eine milchige Masse." Besondere Aufmerksamkeit widmet Lernet-Holenia, insoweit ganz Einwohner der k.u.k.-Monarchie, übrigens den Armeepferden - "zottige Pferde im spannenlangen Winterhaar", "die Pferde schnauften leise durch die Nasen und bekamen auf einmal so hohe Gänge, als fürchteten sie sich (...) auf etwas zu treten, das aufspringen und uns anfallen könnte (...)".
Solche anschaulichen Beschreibungen (die immer in Handlung eingebunden und nie langweilig sind) kommen immer wieder und schaffen eine eigentümliche, diesige Stimmung. Obwohl ich als alte Gruselgeschichtensammlerin allerhand gewohnt bin, wirkte die Geschichte auf mich wie ein verwirrender Alptraum. Es gibt keine Schockmomente, bis auf eine Nebensächlichkeit ganz am Anfang, aber wenn man sich auf die Geschichte einlässt, ist sie unglaublich gruselig. Das gilt auch, wenn man schon frühzeitig ahnt oder weiß, was da eigentlich passiert mit dem Baron Bagge.
In meiner Ausgabe (Ebook vom S. Fischer Verlag aus 1978) ist ein Nachwort von Hilde Spiel beigefügt, die diese Novelle als reifstes Buch Lernet-Holenias betrachtet, und auch Michael Maar rühmt sie in "Die Schlange im Wolfspelz - Das Geheimnis großer Literatur" als Meisterwerk. Von mir eine Leseempfehlung - mit der Einschränkung natürlich, dass man gegen das Setting, ein Kavalleriefeldzug im WK 1, keinen Widerwillen haben darf, wenn das Lesen Freude machen soll. Lernet-Holenia war in gewisser Weise spezialisiert auf solche Themen; ich habe irgendwo gelesen, dass Joseph Roth die militärischen Details in "Radetzkymarsch" von ihm abnicken ließ. Aber keine Angst, heldenhaftes Soldatentum gibt's hier nicht. Eher beinahe das Gegenteil.